Autorin im Interview: Irmgard Fuchs

Im Radio warnen die Experten. Treffen Sie bei so hohen Temperaturen keine großen Lebensentscheidungen.

Die Protagonistin Ihres Debütromans namens Doro Grimm empfindet eine starke Sehnsucht nach dem Besonderen, dem Außergewöhnlichen. Dabei sind ihre Wünsche letztendlich doch ziemlich realistisch: eine schöne, mondäne Wohnung in einer großen Stadt, eine Weltreise. Was hält sie davon ab, ihr Leben in diese Bahnen zu lenken?

 

Doro kommt aus einer Realität, in der erst einmal nichts für sie einfach gewesen ist, weil es für niemanden einfach war. Das Leben ihrer Großeltern war auf ein altes Haus am Waldrand beschränkt und auch ihre Mutter hat als Alleinerziehende jahrzehntelang in der Fabrik gearbeitet und hatte daneben keine großen Energien mehr für die Verwirklichung von Aufstiegs- oder Glücksfantasien. Im Vergleich zu den Leben ihrer Vorgängergenerationen ist Doros Existenz also sozusagen bereits in die besten Bahnen geraten: Sie hat Matura, eine sichere Anstellung, sie kann auf Urlaub fahren. Und im Gegensatz zu ihrer Mutter, die ein Leben lang daran gescheitert ist, hat sie es auch geschafft, eine „harmonische“ Beziehung einzugehen. Doro spürt darum auch die ganze Zeit sehr stark, dass sie eigentlich gar nicht anders darf, als zufrieden mit ihrem Leben zu sein.

 

Doro ist mit Elmar seit sechs Jahren in einer Beziehung. Sie lieben sich. Wieso klappt es mit den beiden dennoch nicht? 

 

Die Liebe an sich klappt ja, vom Gefühl her. Doro liebt Elmar und Elmar liebt auch Doro. Nur denkt Doro, dass Elmar in Wahrheit eben nicht sie liebt, sondern die Person, die sie vorgibt zu sein. Und eigentlich hat sie sich ja auch in Elmar gerade deshalb verliebt: Weil er jemanden in ihr gesehen hat, die sie immer schon gern sein wollte. Und Elmar, der ein extremes Gewohnheitstier ist, verkörpert für Doro auch einen Zugang zum Leben, den sie ja unbedingt auch haben möchte: Elmar ist nämlich grundsätzlich immer mit dem zufrieden, was er eben gerade haben kann. Denn er besitzt ein sehr klares Bewusstsein dafür, dass auch alles sehr viel schlimmer, viel weniger, viel schwieriger sein könnte. Etwas, das ihm die Zeitung ja auch jeden Morgen beim Frühstück mit Berichten über den maroden Zustand der Welt aufs Neue bestätigt.

 

Von ihrer neuen Wohnung aus beobachtet Doro unaufhörlich den Mann und die Frau von Gegenüber. Worin liegt ihr starkes Interesse an dem Paar?

 

Doro wagt etwas, von dem sie nicht wirklich gedacht hat, dass sie es tun könnte: Sie erfüllt sich den Traum, der ihr seit achtzehn Jahren im Kopf rumspukt, packt ihre Sachen und zieht Hals über Kopf in eine Zwischenmietwohnung in der Großstadt. Dort merkt sie aber schnell: Träume taugen nicht wirklich für den täglichen Gebrauch. Als eine extreme, wochenlang anhaltende Hitzewelle über die Stadt hereinbricht und Doro in eine Art Lähmungszustand versetzt, bleibt ihr fast nur noch der Blick nach drüben ins Fenster der anderen. Und das Paar, das dort wohnt, hat aus Doros Perspektive gesehen nicht nur alles richtig gemacht – von der großen Liebe, die ihr regelrecht über die Gasse hinweg entgegenspringt, bis hin zur exquisiten Zimmereinrichtung –, sondern diese Art von geglücktem Leben scheint absolut selbstverständlich für die beiden zu sein. Etwas, das Doro hofft, sich von ihnen abschauen zu können, wenn sie nur oft und genau genug hinschaut.

 

Ein wesentliches Merkmal der Sprache und Stilistik Ihres Buches ist die durchgängige Verwendung der Du-Form und des Präsens. Wieso haben Sie sich für diese Erzählhaltung und diese Erzählzeit entschieden?

 

Die Du-Form habe ich gewählt, weil Doro sich selbst verloren hat. Sie kann kein Ich mehr für sich verwenden, nicht mehr aus dem Inneren nach außen blicken, sondern sie schaut immerzu auf sich. Sie beobachtet sich selbst und fragt sich auch, was sie da eigentlich die ganze Zeit tut – was natürlich ein Symptom der Generation Y gesehen werden könnte, zu der Doro zählt, aber es ist vor allem auch eine Art von Sich-selbst-unterwegs-verloren-haben. Das Präsens zeigt für mich, dass bestimmte Erinnerungen und Erfahrungen, mögen sie auch noch so lange zurückliegen, im Grunde immer in einem drin sind. Sie sind präsent. Sie sind da. Wo man herkommt, aus welchem Milieu, aus welchen Umständen, sogar aus welcher geografischen Region – alles formt mit, was wir über uns denken, wie wir handeln, was wir wagen und vor allem: was wir nicht wagen.

 

In Ihrem Buch tauchen immer wieder Vögel auf, in unterschiedlichsten Formen und Facetten. Was bedeuten diese Tiere der Protagonistin?

 

Als Kind musste Doro viel Zeit bei ihren Großeltern verbringen, die nicht gerade kinderliebe oder herzliche Menschen waren. Den einzigen echten Freund, den Doro dort hatte, war der überfütterte, zerrupfte Wellensittich, dem sie so lange hoch und heilig schwor, dass sie ihn ganz bald aus dem Käfig und den widrigen Umständen retten würde, bis er eines Tages tot von der Stange fiel. Ein Versäumnis, das im Dorokind eine tiefe Schuld zurücklässt, und zugleich natürlich auch für Doro bis heute daran erinnert, dass sie aufpassen muss, die Gelegenheit, ihrem eigenen Gefängnis zu entkommen, nicht zu verpassen.In der Stadt werden die Vögel im Baum vor dem Fenster dann wie damals in der Kindheit aus Mangel an andren Optionen zu ihren Verbündeten. Und wieder verspürt Doro die Dringlichkeit, die Vögel zu retten, denn durch die Hitzewelle können sie nicht mehr richtig fliegen, nicht mehr singen, finden nichts zu fressen – und fallen schließlich sogar tot vom Himmel.